Unglücksfälle im Oberharzer Bergbau…

Unglücksfälle im Oberharzer Bergbau… und was sie uns über den Alltag der Bergleute verraten

Angesichts der bei uns geschilderten Arbeitsbedingungen untertage vermuten unsere Gäste oft, dass die Bergleute nicht alt wurden und es viele Unglücke gab. Wenn die Bergleute täglich stundenlang untertage körperliche Arbeit leisten mussten und anschließend noch mehrere hundert Meter über Fahrten (Leitern) das Bergwerk verließen, liegt der Gedanke nahe, dass es zu zahlreichen Abstürzen oder Unfällen kam.

Der akribische Herr Schell
Ein zeitgeschichtliches Werk, das sich dieser Frage annimmt, ist das  Buch „Die Unglücksfälle in den oberharzischen Bergwerken“ von Friedrich Schell aus dem Jahr 1864.
Aufschlussreich ist zum einen die summarische Auflistung aller Verunglückten vom 01.01.1751 bis 31.12.1863. In diesem Zeitraum wurden insgesamt 1190 tödliche Unglücke erfasst. Das hört sich viel an. Wenn man jedoch beachtet, dass sich diese Zahl auf den gesamten Oberharz bezieht, also die Bergwerke in Bad Grund, Clausthal, Lautenthal, Sankt Andreasberg, Wildemann, Zellerfeld sowie die dazugehörigen Hütten, Pochwerke und Wasseranlagen, dann relativiert sie sich bereits. Denn an all diesen Orten kamen im Schnitt, so Schell, jährlich 10 bis 11 Personen ums Leben. Das verdeutlicht dennoch, wie gefährlich die Arbeit im und für den Bergbau war. Zumal Schell von einer nicht zu unterschätzenden Dunkelziffer ausgeht.

Hohe Dunkelziffern und unsichere Statistiken?
Heißt das, die Statistiken wurden gefälscht? Nein, aber die Regeln, wann ein im Bergbau Verunglückter als solcher anerkannt und erfasst wurde, änderten sich im Laufe der Jahre. So wurden anfangs nur solche als im Bergbau tödlich Verunglückte eingestuft, die auch wirklich vor Ort, spätestens jedoch auf dem Weg nach Hause verstarben. Diese sehr eng bemessene Frist wurde im Laufe der Zeit mehrfach angehoben, erst auf drei, dann auf neun Tage und schließlich wurden alle, die nachweisbar an den Folgen eines Unglücks verstarben, hinzugezählt. Grund dafür waren die Beerdigungssteuer und der Gnadenlohn, die nach dem Tod eines Bergmanns den Hinterbliebenen aus der Knappschaftskasse gezahlt wurden. Anfangs wollte man diesen Betrag wohl möglichst gering halten und fasste die Definition eines im Bergbau Verstorbenen sehr eng.

Gefährliche Tätigkeiten und verschiedene Unglücksursachen
Schell geht aber noch weiter; er analysiert die Unglücksursachen und die gefährlichsten Berufsgruppen. Das bedeutet: Wenn man sich die absoluten Zahlen anschaut, starben die Meisten durch Abstürze in die Schächte, Erschlagenwerden von herunterfallendem Gestein sowie durch zu früh explodierte Bohrlöcher. Diese „Rangfolge“ lässt sich auch bei den Berufsgruppen erkennen. Am gefährdetsten waren diejenigen, die unmittelbar am Schacht arbeiteten, wie Ausrichter (sorgt für eine reibungslose Fahrt der Tonne durch Ausrichten dieser im Schacht) oder Anschläger (für das Befüllen der Tonne zuständig). Ebenfalls eine hohe Anzahl Verunglückter findet man bei den Kunstknechten, also der Maschinisten, die für die Pumpen verantwortlich waren. Und schließlich die Holzarbeiter, die den Ausbau untertage anfertigten, der selbstverständlich an den Stellen angebracht wurde, an denen das Gestein locker war. Zwar verzeichnen diese Berufsgruppen nicht die höchsten Totenzahlen an sich, aber relativ gesehen, also auf die Gesamtzahl der Arbeiter innerhalb dieser Berufsgruppe, schon.

Hohe Belastungen und schwierige Arbeitsumgebungen
Schell weist bei der Erläuterung seiner Statistik auch nochmal auf die generell gefährlichen und körperlich anstrengenden Arbeitsbedingungen hin und gibt damit einen Einblick in das Leben der Oberharzer Bergleute. Neben den allgemeinen Gefahren des Arbeitsplatzes kommen Krankheiten wie Rheuma oder die sogenannte Bergsucht, eine durch schlechte Wetter, Öl- bzw. Pulverdampf verursachte Lungenkrankheit, hinzu. Mangelndes Sonnenlicht und die spärliche Ernährung taten ihr Übriges.

Empathie und Zusammenhalt
Wenn man sich die Todesursachen anschaut, so wird schnell klar, dass es sich bei den meisten um Einzelunfälle handelte. Heißt das, es gab keine größeren Unglücke im Oberharzer Bergbau? Doch. Zumindest beschreibt Schell neun solcher aus dem 19. Jahrhundert ausführlich in seinem Werk. Aber nicht als nüchternen Sachbericht, ganz im Gegenteil: Sie lesen sich eher wie ein Roman, sind spannend, mitfühlend und sicherlich subjektiv verfasst. Und man lernt aus ihnen viel, von den technischen Herausforderungen über den Zusammenhalt der Bergleute untereinander, die Beziehung zu ihren Vorgesetzten bzw. der Bergbaubehörde bis hin zu den bereits angesprochenen Lebens- und Arbeitsbedingungen.

Lange Arbeitstage und schlechte Ernährung
Fangen wir mit Letzterem an: Schell berichtet, dass die Arbeitszeiten ursprünglich von 6:00 bis 12:00 Uhr morgens dauerten. Aufgrund der auch schon damals vorherrschenden Inflation baten die Bergleute um eine Lohnerhöhung. Diese wurde ihnen gewährt – in Form von Mehrarbeit. Die zusätzliche „Nebenschicht“ ging von 12:00 bis 18:00 Uhr. Und wer mit dem Lohn davon noch nicht reichte, konnte nachts ab 1:00 oder 2:00 Uhr noch eine ca. dreistündige zweite Nebenschicht fahren. Fragen Sie sich gerade, wann die Bergleute schliefen? Ich mich auch…… Zumal die Ernährung, ich sprach es bereits weiter oben an, bei weitem nicht so ausgewogen und energiereich wie heute war. Schell erwähnt mehrfach, dass selbst mitgebrachte Brote die Hauptnahrungsmittel darstellten. Da ein Stück Speck dazu schon eine Besonderheit darstellte, stelle ich mir den Belag eher karg, z.B. in Form von Butter, vielleicht auch Käse, vor. Interessant aus heutiger Sicht ist die Mitnahme von Alkohol, die zumindest bei einer Geschichte erwähnt wird. Wobei Bier früher ja bekanntermaßen als Grundnahrungsmittel galt.

Geleucht und "Frosch"
Schließlich scheint Rauchen damals selbst untertage erlaubt gewesen zu sein, gleichzeitig durfte wegen der Brandgefahr kein offenes Feuer entfacht werden. Apropos Feuer: Ein „Feuerzeug“, wie es Schell nennt, musste jeder Bergmann bei sich tragen, um im Notfall seine Grubenlampe wieder anzünden zu können. Die offenen Harzer Frösche (Öllampen) wurden vor Schichtbeginn mit so viel Brennmittel bestückt, dass es für die Arbeitszeit reichte, aber nicht viel darüber hinaus. Hieß für Verschüttete, dass sie sich anderweitig behelfen mussten, z.B. indem immer nur jeweils eine Lampe brannte, bis sie aufgebraucht war und dann die nächste genutzt wurde usw. Bei einem der beschriebenen Unfälle werden die besagten „Feuerzeuge“ nass, sodass die betroffenen Bergleute nur dank ihrer guten Ortskenntnis den Rückweg tastend finden.

Böse Wetter und leichtsinniger Mut
Also wir sehen bereits, dass die damaligen Arbeitsbedingungen aus heutiger Sicht unvorstellbar waren. Hinzu kommt die noch nicht ausgereifte Technik zur Gefahrenabwehr bzw. Bergung. Schell erläutert gleich mehrere Unfälle, in denen giftige Gase, sogenannte „böse Wetter“ eine entscheidende Rolle spielen. Aber nicht, weil diese per se untertage auftreten. Das war im Oberharzer Erzbergbau nicht der Fall. Jedoch kam es vor, dass man Abbauorte stilllegte und mitsamt dem sich darin befindenden Holzausbau flutete. Wenn man dann Jahre oder Jahrzehnte später diese Bereiche wieder öffnete, hatten sich z.T. Gase durch die Holzzersetzung gebildet. Bei einem anderen Unfall war ein Grubenbrand Ursache für die Bildung von wahrscheinlich Kohlenstoffmonoxid. Und woran erkannten die Betroffenen aber auch Retter, dass sie sich gerade in Lebensgefahr befanden? An den körperlichen Symptomen! Da diese sich jedoch u.a. in Schwäche, schweren Gliedmaßen, Angst etc. äußern, gelingt es einigen nicht mehr, rechtzeitig den Rückzug anzutreten und so wurden einige Retter selbst zu Verunglückten.

Selbstlosigkeit und Fürsorge
Ist der lebensrettende Kanarienvogel also nur ein Mythos? Jein, wie Sie in unserem Blogeintrag zum Harzer Roller (zum Beitrag hier klicken) lesen können. Aus heutiger Sicht aber viel verständnisloser ist die Reaktion der Bergleute auf die toten Retter: Anstatt die Bergungsversuche einzustellen, bis die Grubenluft wieder „sauber“ ist, finden sich immer wieder Freiwillige, die unbedingt die Verunglückten finden und nach übertage bringen wollen. Sie sind sich dabei sehr wohl der Lebensgefahr bewusst, in die sie sich begeben. Aber solange noch eine Chance besteht, Überlebende zu retten, wird sie ergriffen, selbst wenn sie noch so klein ist. Das eigene Leben wird dabei hintangestellt. Der Zusammenhalt ist also sehr groß, nicht nur innerhalb der Bergleute, sondern auch innerhalb der Orte. Das spiegelt sich in der Anteilnahme bei den Unfällen wider:  Schell schreibt: „Dagegen wurden die Wege nach den Gruben von Menschen nicht leer und das ängstliche Nachforschen, ob sich von den Expeditionen noch nichts gezeigt habe, bewies nur zu sehr, welchen Antheil man an dem allgemeinen Unglücke nahm.“ (Schell, Friedrich: Die Unglücksfälle in den oberharzischen Bergwerken, Clausthal 1864, Erste Nachdruckauflage 1986, S. 158).

Selbst die Vorgesetzten, die Bergbeamten, lassen eine gewisse „Fürsorgepflicht“ erkennen. Bei mehreren Unglücken verhindern sie weitere Opfer, indem sie die plan- und aussichtslosen Bergungsversuche einstellen. Und die Bergbehörde sichert nach der Explosion des Pulverhauses bei Clausthal die Existenz der betroffenen Familien, in dem sie sie finanziell unterstützt und darüber hinaus die Söhne der getöteten Bergleute anstellt bzw. befördert. Auch an diesem Unglück lassen sich die damaligen Arbeitsbestimmungen und der sehr pragmatische Umgang mit Gefahren ablesen: Bei besagter Explosion sind unter den 28 Todesopfern auch neun Kinder und eine Frau; wenn nämlich die Bergleute nicht persönlich die wöchentliche Ration Schießpulver für die Gruben abholen konnten, schickten sie eben ihre Familienangehörigen.  Was ein Hinweis darauf ist, dass die gesamte Familie zum Lebensunterhalt beitragen musste und somit vom Bergbau abhängig war. (Zur Kinder- und Frauenarbeit siehe auch die Blogbeiträge à Link).

Abschließende Reflektionen
Welcher Eindruck bleibt nach der Lektüre? Auf jeden Fall eine gewisse Beklommenheit angesichts der Arbeitsbedingungen und Gefahren und damit verbunden natürlich die Erleichterung und die Erkenntnis, dass es mir doch heute ziemlich gut geht. Und ich bin beeindruckt davon, dass die Bergleute sich vollkommen der „Sache“ verschrieben haben, ihr eigenes Leben riskierten für ihre Arbeitsstätte und ihre Kollegen. Taten sie das aus einer tiefen Überzeugung, wie es in Schells Beschreibungen anklingt? Oder fügten sie sich einfach in ihr Schicksal? Und wenn ja, aus finanziellen oder doch Glaubensgründen? Oder verfolgt Schell eine bestimmte Intention mit seinem Buch? Da er seine Karriere selbst als einfacher Bergmann begann, hatte er die Widrigkeiten und Gefahren des Berufs am eigenen Leib erlebt und wollte vielleicht Respekt dafür hervorrufen. Zur Zeit der Herausgabe des Werks war er jedoch Pensionär und hatte zuvor jahrelang die Königliche Berginspektion Silbernaal geleitet, also auf die Seite der Vorgesetzten gewechselt. Lag es deshalb in seinem persönlichen Interesse, die Treue der Bergleute zu ihrem Arbeitgeber zu betonen?

Alles reine Spekulation. Aber gleichzeitig Gedankenspiele, die mich in die Gegenwart und zu folgenden Fragen führen: Welche Beziehung haben wir heutzutage zur Arbeit des Bergmanns?  Nehmen wir nicht auch nach wie vor Anteil an Bergwerksunglücken, die sich weit weg von uns ereignen? Ich kann mich noch sehr gut an den Einsturz einer chilenischen Mine im Jahr 2010 erinnern, bei der 33 Bergleute verschüttet wurden. Menschen auf der ganzen Welt haben damals mit den Eingeschlossenen gebangt und ihre Rettung in den Medien verfolgt. Und zeigt nicht auch die Frage nach den Unglücksfällen im Oberharzer Bergbau, welchen Respekt wir vor der Arbeit untertage haben und dass uns die Gefahren, denen sich die Bergleute aussetz(t)en, sehr wohl bewusst sind? Gleichzeitig gebe ich zu, dass ich mich noch nicht ausführlich mit den Arbeitsbedingungen und Unfällen in den afrikanischen, südamerikanischen oder chinesischen Minen, in denen seltene Erden für meine Mobilgeräte abgebaut werden, auseinandergesetzt habe. Aber vielleicht ist das ja typisch Mensch: Solange es weit genug weg ist und uns nicht unmittelbar tangiert, können wir es gut ausblenden. Bis ein schweres Unglück passiert……

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